Bleib bei Dir
Erwartungen und Forderungen innerhalb von Beziehungen hat sicherlich jeder schon einmal erlebt. Dieser Moment, wenn der oder die andere etwas von uns will und man das Gefühl hat, keine Wahl zu haben. Wenn der Eindruck entsteht, dass es nicht okay ist, das Gewünschte nicht zu leisten.
Was in so einer Situation meistens passiert ist, dass man sich innerlich abwendet und die vermeintliche Forderung von sich abwehrt, weil das eigene Sein keinen Raum findet. Oder aber man fühlt sich angegriffen und nicht in Ordnung, so wie man ist und wie man es macht, empfindet es als Kritik am eigenen Verhalten. Dann wird man sich vielleicht dagegen wehren und am Ende vermutlich streiten.
Kampf oder Flucht – kann man beides machen… Es ist eine Möglichkeit, sich dieser Situation zu entziehen und sich so seinen Raum wieder zu nehmen oder aber auch zu erkämpfen. Was so aber nicht passieren wird ist, dass das Miteinander gefördert wird. Und gerade in engen Freundschaften oder Beziehungen ist es doch das, was wir eigentlich wollen. Ein friedliches und liebevolles Miteinander, in dem beide so sein und da sein können, wie sie sind.
Wie kann man also besser mit diesen Erwartungen oder Forderungen umgehen?
Dazu macht das Sinn erst einmal zu verstehen, was überhaupt dazu führt, dass jemand Erwartungen oder vielleicht sogar Forderungen hat.
Es gibt sicherlich noch andere Situationen, aber mir fallen gerade diese drei Optionen ein, wann man so reagiert:
- Das eigene Weltbild wird in Frage gestellt (macht Angst/Unsicherheit)
- Etwas entspricht nicht dem persönlichen Wertesystem (dem, was man für gut, richtig und wichtig befindet)
- Man braucht etwas (würde sonst mit innerem Schmerz in Kontakt gebracht werden)
Erwartung bedeutet, ich erwarte, dass etwas auf eine bestimmte Art und Weise zu sein hat. Weil ich es so kenne, so brauche oder weil es meinen Wertvorstellungen und meinem Denken entspricht. Für mich macht den entscheidenden Unterschied, was es mit einem macht, wenn die Erwartung nicht erfüllt wird. Reagiert man dann mit Schmerz (welcher Art auch immer), fehlt es an der nötigen Freiheit. Und genau dieser Punkt löst beim Gegenüber häufig eine innere Abwehr aus.
Läuft es gut, stimmen beide in etwa überein und die Erwartung fällt nicht weiter auf. Problematisch wird das ganze erst, wenn man seine Erwartungen einem anderen Menschen überstülpen will. Denn der hat ja seine ganz eigenen Gedanken und Wertvorstellungen. Weichen diese von den eigenen ab, kann daraus schnell ein Konflikt entstehen.
Ein Beispiel…
Ein Klassiker in Beziehungen ist dafür das Thema Nähe und Distanz. Während in der Verliebtheitsphase sich meist beide ziemlich einig sind, dass möglichst viel Zeit miteinander verbracht wird, zeigt sich danach, wie ausgeprägt der Wunsch nach Nähe und Distanz auf beiden Seiten jenseits des Hormoncocktails wirklich aussieht. Und hier wird’s haarig, denn häufig sind die Bedürfnisse hier unterschiedlich gelagert. Einer möchte mehr als der andere. Und das wechselt auch noch. Ein Thema, bei dem man immer wieder schauen darf, ein gesundes Gleichgewicht beizubehalten.
Doch in der Liebe sind wir verletzlich, denn wir lassen einen Menschen sehr nah an uns heran, öffnen das Herz, schenken Vertrauen und Nähe. Wer hier in der Vergangenheit, besonders in der Kindheit schon enttäuscht wurde, ist dann besonders sensibel. Die alten Wunden werden schnell aufgerissen, wenn wir als Erwachsene wieder in eine ähnliche emotionale Lage gebracht werden, zum Beispiel sich abgelehnt zu fühlen, weil der andere „mehr Freiheit“ braucht.
In so einer Situation kann es schnell passieren, dass Erwartungen oder auch Forderungen entstehen. Und zwar um zu verhindern, dass diese alte Wunde weiter angerührt wird. Diese Energie oder Vehemenz, die in so einer Erwartung oder Forderung zu spüren ist, entspricht sozusagen der inneren Ladung des Schmerzes. Je größer dieser ist, umso größer wird auch der unbewusste Wunsch sein, ihn zu verhindern. Es ist also besonders wichtig, dass die Erwartung erfüllt wird, um dem zu entkommen. Je nachdem, wie reflektiert man in dem Thema ist, bekommt man diesen Prozess mit oder auch nicht. Aber Reflektion alleine reicht nicht. Wenn man den Schmerz nicht halten kann, dann bleibt einem nichts anderes übrig, als im Außen nach einer Lösung zu suchen. Doch eigentlich steckt eine emotionale Not dahinter. Meine Erfahrung ist: So nett die Worte auch formuliert sein mögen, solange diese innere Not dahintersteckt, wird so eine Aussage auch als Erwartung oder Forderung wahrgenommen. Blöd, dass so erst recht nicht das passiert, was man sich in dem Moment wünscht. Eine Lose-Lose-Situation.
Solltest du dich häufig eher auf der anderen Seite befinden, dann wirst jetzt vielleicht denken „Ha, sag ich´s doch. Hab ich recht gehabt. Das ist nicht mein Problem. Ich kann also auf mein Recht pochen.“
Doch A bringt das die Beziehung nicht weiter und B gäbe es auch noch einen anderen Weg, mit so etwas umzugehen, anstatt innerlich auf die Barrikaden zu gehen und alles von sich abzuwehren. Um mal bei dem Beispiel zu bleiben: Bloß, weil jemand mehr Nähe haben möchte, heißt das ja im Umkehrschluss nicht, dass man seine Freiheit verlieren muss. Wer das so erlebt, hat offensichtlich auch ein Thema, zwar nicht mit fehlender Nähe aber mit fehlender Freiheit. Und der Schlüssel dazu befindet sich genauso in einem selbst, wie sich auch der Schlüssel zu erfüllter Nähe in einem selbst befindet.
„Am Ende werden wir immer alles in uns selbst und nie im anderen finden.“
Wir ziehen die Menschen an, die energetisch zu uns passen
Robert Betz hat einen schönen Ausdruck für Menschen, die uns an unsere Schmerzpunkte führen. Es sind die Arsch-Engel. Sie triggern uns, zeigen uns Dinge auf, die wir nicht sehen wollen, bringen und emotional in Aufruhr. Und das passiert gerne auch in dem Moment, wo man mit einer Erwartung konfrontiert wird. Häufig ist es so, dass diese Erwartung genau den Punkt in einem trifft, an dem man sich sowieso schon unzulänglich fühlt. Und das ist der Grund dafür, warum man das dann oft auch sehr persönlich nimmt und sich mit Händen und Füßen dagegen wehrt. Es trifft also ein verletztes Kind ein anderes verletztes Kind und aus dieser Haltung heraus entsteht meistens nichts Gutes und schon gar keine erfüllende Beziehung.
Wie mache ich mich frei von der Erwartung anderer?
Wie also rauskommen, aus dem Dilemma? Ich sehe hier zwei wichtige Aspekte.
- Mein Blick auf den Menschen, der etwas von mir erwartet
- Mein persönlicher Umgang mit Erwartungen
Mein Blick auf den Menschen, der etwas von mir erwartet
Meine Haltung ist, dass jeder Mensch mit allem, was er tut, versucht, sich ein Bedürfnis zu erfüllen. Und zwar das Bedürfnis was gerade am präsentesten ist.
Das heißt, wenn jemand eine Erwartung an mich hat oder eine Forderung an mich stellt, dann ist das der unglückliche Versuch, dafür zu sorgen, dass ein Bedürfnis erfüllt wird. Die Tatsache, dass dies mit so einer vehementen Energie passiert, sagt mir, dass die Not sehr groß ist und dementsprechend dieses Bedürfnis sehr im Mangel sein muss.
Mein persönlicher Umgang mit Erwartungen
Wichtig ist zu erkennen, dass ich in so einer Situation eine Wahl habe. Ich kann das ganze persönlich nehmen und mich in meiner Freiheit eingeschränkt fühlen. Ich kann darauf mit Abwehr reagieren und weggehen. Dann sorge ich für meine Autonomie und es wird mir besser gehen. Aber ich schaffe keine Verbindung.
Oder aber, ich schaue hinter die Worte, hinter diese Vehemenz und versuche herauszufinden, um welches Bedürfnis es dem Menschen gerade geht. Was braucht der/diejenige und versucht es von mir zu bekommen.
Das kann ich aber nur, wenn ich mich nicht verantwortlich für das Erleben des anderen fühle.
Wer ist für was verantwortlich?
Wir sind hier sehr darauf konditioniert worden, verantwortlich für die Gefühle anderer Menschen zu sein, bzw auch andere für das eigene Erleben verantwortlich zu machen. Für mich ist das eine große Ursache dafür, dass es so schwierig ist, sich wirklich nah zu kommen und empathisch miteinander zu sein. Denn wenn ich mich verantwortlich für jemand andere fühle, dann geht das automatisch mit Schuldgefühlen einher. Die Gewaltfreie Kommunikation ist ein wunderbarer Weg, sich aus dieser Konditionierung zu befreien. Marshall Rosenberg hat diese Entwicklung „Von emotionaler Sklaverei zu emotionaler Befreiung“ in drei Stadien aufgeteilt.
- Stadium – emotionale Sklaverei: Wir übernehmen die Verantwortung für die Gefühle anderer
- Stadium – „rebellisch“: Wir ärgern uns; wir wollen für die Gefühle anderer nicht länger verantwortlich sein
- Stadium – emotionale Befreiung: Wir übernehmen die Verantwortung für unsere Absichten und Handlungen
In der oben genannten Situation hängt man irgendwo zwischen 1 und 2. Man fühlt sich schuldig dafür, dass es dem andern schlecht geht, unter Druck gesetzt, es ändern zu müssen, ist verärgert darüber.
Macht man sich bewusst, dass man nicht verantwortlich dafür ist, ist das schon mal eine riesen Erleichterung. (Allerdings darf nicht vergessen werden, dass man selbst auch verantwortlich für das eigene Erleben ist. Der andere kann ebenso wenig für die eigenen Schuldgefühle und es liegt auch nicht beim anderen, wenn man sich gezwungen fühlt, auf Erwartungen zu reagieren.)
Wenn ich also erfolgreich durch den Prozess der emotionalen Befreiung gegangen bin, dann kann ich in so einer Situation, zwischen dem Bedürfnis (das, worum es eigentlich geht – in dem Fall Nähe), und der Strategie (dass ich das zu erfüllen habe) unterscheiden. Der Vorteil, wenn ich das so trenne ist, dass ich mir klar mache, dass das Bedürfnis bei dem Menschen liegt und ich nur die Strategie bin, also der „Bedürfniserfüller“. Und dass es theoretisch auch andere „Bedürfniserfüller“ geben könnte. Wenn dieser Druck entfällt, dass ich für die Erfüllung dieses Bedürfnisses verantwortlich bin, dann kann ich empathisch auf den anderen eingehen. Ich kann den anderen mit seinem Bedürfnis und auch seinem Schmerz sehen.
Das schöne ist, dass es ganz häufig reicht, dass ein Bedürfnis Raum findet. Es muss nicht immer zwanghaft erfüllt werden. Es möchte nur gelassen werden, dann kann diese Vehemenz, diese fordernde Energie nachlassen. Und so entsteht auf beiden Seiten ein Raum, der es ermöglicht, gemeinsam eine Lösung zu finden, die für beide Seiten stimmig ist.
Gerade bei immer wiederkehrenden Themen ist das eine Möglichkeit, dieses Muster zu durchbrechen, weil man sich gemeinsam der Thematik stellt und dem ganzen Raum gibt, anstatt nur darüber zu streiten.
Das Thema Nähe und Distanz ist ein sehr großes und in Beziehungen häufig vorkommendes Problem. Da die Wurzeln hier in der frühesten Kindheit stecken, ist das leider auch nichts, was man mal eben so klärt, wenn man damit Schwierigkeiten hat. Aber es lohnt sich dran zu bleiben und zu lernen, hier gut für sich zu sorgen. Beziehugen können so nährend und heilsam sein, wenn sich beide darauf einlassen und bereit sind, miteinander zu wachsen.